Archiv der Kategorie: Kurzgeschichte

Weihnachtswünsche

„Verfluchtes Mistvieh, ich bringe dich um!“, schrie Florian Lehmann aufgebracht. Danach sah die Situation allerdings überhaupt nicht aus, ganz im Gegenteil. Er hatte sich gerade noch mit einem beherzten Sprung retten können, bevor zwei prachtvolle weiße Zahnreihen unmittelbar vor seiner ziemlich blass gewordenen Nase krachend aufeinander schlugen. Viel hätte nicht gefehlt, dann wäre Florians ausgeprägter Zinken amputiert worden. „Blöde Töle“, setzte er schon sehr viel verhaltener hinzu. Der riesige Hund knurrte grimmig. Es war wohl keine gute Idee gewesen, nach ihm zu treten. Musste er aber auch den ganzen Stollen auffressen? Klar, er hatte ihn nicht gefüttert, doch das war schließlich nicht abgemacht gewesen. Niemals hätte er auf die Bitte seines Kumpels Locke eingehen dürfen, Freundschaft hin oder her. Was hatte der ihn bekniet: „Bitte Floh, nur für eine Nacht. Ich habe was vor, und wenn ich Pluto allein in der Wohnung lasse, macht er mit seinem Jaulen das ganze Haus wach.“ Locke war der Einzige, der ihn immer noch mit seinem alten Spitznamen ansprach. Florian Lehmann hörte das nicht gern, denn dieser Name stammte genauso wie seine Freundschaft mit Locke aus einer Zeit, die er längst hinter sich gelassen hatte. Natürlich hätte er sich denken können, dass die nächtliche Abwesenheit seines Kumpels keine legalen Gründe haben dürfte. Aber dass der ein Juweliergeschäft ausrauben wollte, das hatte er wirklich nicht ahnen können. Natürlich war dieser Plan einige Nummern zu groß gewesen, mit der Folge, dass Locke nun für unabsehbar lange Zeit gesiebte Luft atmen würde. Und er hatte dessen Höllenhund, der offenbar eine heftige Abneigung gegen ihn hegte, an der Backe. Das musste er schleunigst ändern. Auf keinen Fall konnte er ihn ins Tierheim bringen, da würde man ihm nur neugierige Fragen stellen und er wollte auf keinen Fall riskieren, dass eine Verbindung zwischen ihm und Locke hergestellt werden konnte. Er würde seinen makellosen Ruf nicht wegen eines blöden Drecksköters riskieren. Das Vieh musst verschwinden und zwar endgültig. Vorsichtig, um den Hund nicht zu reizen, begab er sich rückwärts in den Flur. Was für eine Rasse war das überhaupt? Eine Kreuzung aus Berner Sennenhund und Hovawart hatte sein Freund behauptet. Für ihn sah er eher nach einem Löwen aus. Einem mageren Löwen, ein üppiges Leben hatte er wohl auch bei Locke nicht gehabt. Na, egal. Florian nahm die Leine vom Haken, die eher ein besserer Strick war. „Komm Pluto“, lockte er den Hund. Dem war der innere Zwiespalt deutlich anzumerken, seine Freude auf einen Spaziergang wurde von seinem Misstrauen gedämpft. Nur zögernd kam er näher und ließ sich schließlich willig anleinen. Als er ins Auto sprang, war sogar die Andeutung eines Schwanzwedelns zu erkennen. Das wurde noch freudiger, als sie außerhalb der Stadt in einem Waldstück anhielten. Einsam war es hier, weit und breit kein Mensch zu sehen. Pluto streifte aufgeregt schnüffelnd zwischen den Bäumen umher und bekam so überhaupt nicht mit, wie Florian die Leine um einen Baumstamm schlang. „Tschüss, auf Nimmerwiedersehen“, murmelte er, während er sich entfernte. Arschkalt war es heute, jetzt ging auch noch ein unangenehmer Eisregen nieder. Florian beeilte sich, in sein Auto zurückzukommen. Das wäre erledigt, jetzt musste er sich sputen, um rechtzeitig an seinen Arbeitsplatz zu kommen.

Florian Lehmann liebte seinen Job und er erledigte ihn ausgezeichnet. Als Kaufhausdetektiv in Berlins erstem Nobelkaufhaus war er sehr erfolgreich, was ihm so manche Fangprämie einbrachte. Niemand hier ahnte, wo und wie er seine speziellen Fähigkeiten erworben hatte. Eine gewisse Zeit lang war er auf der anderen Seite tätig gewesen. Aus dieser Zeit stammte auch sein Spitzname Floh, den er seiner zierlichen Gestalt und seiner Behändigkeit verdankte. Nie war er erwischt worden, doch irgendwann war ihm die Sache mit den Ladendiebstählen zu heiß geworden. Die Kaufhäuser hatten ziemlich aufgerüstet, was die Überwachungstechnik betraf. Und er verspürte nicht die geringste Lust, irgendwann einsitzen zu müssen, wie viele seiner ehemaligen Kumpane. Für die war er jetzt seriös geworden, denn niemals würde er einer Menschenseele anvertrauen, dass er einem sehr lukrativen Nebenerwerb nachging. Florian stieg in Privathäuser ein, wobei er äußerst umsichtig vorging. Zuerst spionierte er seine potentiellen Opfer aus. Niemand schöpfte Verdacht, wenn er sich an die Fersen eines besonders betucht wirkenden Kunden heftete. Das war schließlich seine Aufgabe! Viele fühlten sich in diesem Einkaufstempel wie zu Hause und plauderten vertraulich mit den Verkäufern. Auch auf diesem Wege erfuhr man eine Menge. Sein neuestes Zielobjekt war eine elegante alte Dame, die hier regelmäßig ihren wertvollen Schmuck und ihre Designerkleidung spazieren führte. Längst wusste er , dass sie verwitwet war und allein in einem großen Haus lebte, in dem sich auch noch die wertvolle Münzsammlung ihres verstorbenen Gatten befand. Florian hatte das Haus unauffällig in Augenschein genommen. Die Kellerfenster und die Fenster in der ersten Etage waren vergittert. Die Alarmanlage war jedoch eine Attrappe, das erkannte er mit geübtem Blick sofort. Es kam gar nicht selten vor, dass so etwas installiert wurde. Die Bewohner vieler Häuser waren von teuren Fehlalarmen genervt und glaubten, mit einer Imitation potentielle Einbrecher hinreichend abschrecken zu können. Nicht aber einen Experten wie Florian! Die Weihnachtsgirlande, die den Eingang des Hauses umrahmte, verwandelte sich in seinen Augen in ein Geschenkband. Er war ein geübter Fassadenkletterer, der den Einstieg über das Dach bevorzugte. Das passende Dachfenster hatte er bereits ausgewählt, nun wartete er nur noch auf den richtigen Zeitpunkt. Der schien nach einer Woche gekommen zu sein. Seine Zielperson, die das Kaufhaus wieder einmal beehrt hatte, um für die am Heiligabend erwarteten Kinder und Enkel die letzten Geschenke zu kaufen, nahm die Wünsche des Personals für ein schönes Fest entgegen. „Es wäre schön, wenn wir noch Schnee bekommen würden“, sagte sie gerade. „Für mich gehört das einfach zum Weihnachtsfest dazu. Meine Nachbarn sind heute in die Dominikanische Republik abgeflogen. Das wäre nichts für mich.“ Besser konnte es nicht laufen. Die Nachbarn verreist, die Kinder noch nicht in Sicht. Heute oder nie, sagte sich Florian Lehmann.

Der Notruf ging um 2.00 Uhr nachts in der Zentrale ein. „Der Einbrecher ist noch im Haus?“, fragte die Beamtin, die den Anruf entgegennahm. „Schließen Sie sich im Zimmer ein, machen Sie Licht und bewegen Sie sich laut. Ein Streifenwagen ist ganz in der Nähe, die Kollegen werden in wenigen Minuten da sein.“

Als die Polizisten vor dem Haus ankamen, öffnete sich zu ihrer Verblüffung die Tür und sie sahen sich einer lächelnden alten Dame in einem fliederfarbenen Morgenrock gegenüber.

„Sind wir hier richtig? Wurde bei Ihnen eingebrochen?“, fragte der älteste der Beamten, ein stämmiger Mann mit einem Schnauzbart.

„Ja“, erwiderte die Dame fröhlich, „der Einbrecher ist noch da. Sie können ihn gleich mitnehmen.“

Der Beamte starrte sie ungläubig an, während seine beiden jüngeren Kollegen unwillkürlich nach ihren Dienstwaffen griffen. „Keine Sorge“, lachte die Frau, „ich habe ihn im Keller eingesperrt.“ Noch immer stumm vor Erstaunen folgten die drei Polizisten der Hausherrin in die geräumige Diele. Vor der Kellertür saß ein riesiger Hund, der ihnen argwöhnisch entgegen starrte. „Alles gut, Hasi“, beruhigte ihn sein Frauchen, „die Männer wollen uns helfen.“

Der Hund ließ sich willig von ihr zur Seite führen, worauf sie die Kellertür aufschloss und der vor Angst schlotternde Florian Lehmann aufgefordert wurde, mit erhobenen Händen nach oben zu kommen. Dort schnappten die Handschellen zu. Der ältere Beamte sah sich kurz im Haus um. „Einstieg durch das Dachfenster“, stellte er fest. „Sollte mich nicht wundern, wenn wir endlich unseren Klettermax gefunden haben. Dadurch wird eine lange Einbruchsserie endlich aufgeklärt.“

„Einen treuen, wachsamen Hund haben Sie“, bemerkte sein jüngerer Kollege. „Aber Hasi ist schon ein merkwürdiger Name für so ein großes Tier.“

Die alte Dame zuckte mit den Schultern. „Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Als ich ihn nass und frierend im Wald fand, von einem gewissenlosen Menschen an einen Baum gebunden, da habe ich spontan gesagt: „Du armes Hasi! Er hat freudig darauf reagiert. Also blieb es bei dem Namen.“ Sie hoffte, dass die Polizisten sie nicht fragen würden, was sie im Wald gesucht hatte. Nur ungern hätte sie zugegeben, dass sie sich frisches Tannengrün stibitzen wollte. Das in den Geschäften angebotene Zeug verlor doch immer schon die Nadeln. Doch die interessierte zum Glück etwas anderes.

„Der Hund wurde ausgesetzt? Haben Sie das gemeldet?“

„Natürlich. Aber er hatte keinen Chip und keine Hundemarke, der Halter konnte nicht ermittelt werden. Damit er nicht ins Tierheim musste, habe ich angeboten, ihn mitzunehmen und erst einmal richtig aufzupäppeln. Mein größter Weihnachtswunsch ist es ja, ihn behalten zu dürfen.“

„Ich nehme stark an, dass er sich erfüllen wird“, meinte der stämmige Beamte lächelnd. „Derjenige, der ihn ausgesetzt hat, wird sich hüten, sich freiwillig zu melden. Ihn erwartet eine saftige Strafe.“

„Das wäre mein zweiter Wunsch“, erwiderte die Frau lebhaft. „Derjenige, der dem armen Tier das angetan hat, soll seine gerechte Strafe dafür bekommen.“

Nur einer der Anwesenden erkannte mit schmerzhafter Klarheit, dass auch dieser Wunsch bereits in Erfüllung gegangen war.

Der falsche Weihnachtsmann

Ein Kurzkrimi von Fiona Limar

Dr. Edwin Möller nestelte an seiner Krawatte herum, klaubte einen heruntergefallenen Lamettafaden vom Teppich auf und tat dann so, als würde er eine Kerze am Weihnachtsbaum zurechtrücken. Er war nervös, wollte es sich aber um keinen Preis anmerken lassen. Alle sollten sich hinterher daran erinnern, dass er an diesem Abend völlig entspannt gewesen war. Anwesend waren seine Tochter Nora mit ihrem Mann Christian und Sprössling Paul sowie sein Sohn Dietrich mit Freundin Kathrin. Während Ehefrau Marianne den Tisch abwischte und eine weihnachtliche Decke darüber ausbreitete, schaute Dr. Edwin Möller unauffällig auf die Uhr. Sie waren zu früh mit dem Essen fertig! Noch fast eine Stunde bis zum Showdown.

„Opa, wann kommt denn nun der Weihnachtsmann?“ Die Stimme von Enkel Paul ließ ihn zusammenzucken. Opa! Wie sich das schon anhörte. Er war schließlich ein Mann im besten Alter und sah ganz und gar nicht wie ein Opa aus. Darin unterschied er sich völlig von Marianne, die sich in ihrer Oma-Rolle ausgesprochen wohlzufühlen schien. Jetzt beugte sie sich zu Paul hinunter und tätschelte ihm liebevoll den Kopf. „Ein wenig musst du dich noch gedulden. Soll die Oma dir solange etwas vorlesen?“ Sie griff nach dem bereitliegenden Märchenbuch und setzte sich ihre Brille auf die Nase. Paul kletterte strahlend auf ihren Schoß. Edwin musterte sie verstohlen. Alt war sie geworden, wenn sie beim Lesen den Kopf gesenkt hielt, fiel die schlaffe, faltige Haut an ihrem Hals noch deutlicher auf. Leicht angewidert wandte er seinen Blick ab, schaute stattdessen verstohlen zu Kathrin hinüber. Frisch und appetitlich wie ein knackiger Apfel sah sie aus und ihre Beine, die in einer aufregend gemusterten Strumpfhose steckten, schienen bis zum Himmel zu reichen. Von ihrer Sorte liefen viele herum, und so manche war nicht abgeneigt, einen erfolgreichen, gestanden Mann wie ihn, ein wenig von ihrer Süße kosten zu lassen. Warum sollte er sich da – um im Bilde zu bleiben – mit verwelktem Gemüse begnügen? Natürlich hatte Marianne nicht das geringste Verständnis für seine Wünsche. Bei ihrer prüden Moralauffassung würde sie ihn wegen der geringsten Verfehlung in eine schmutzige Scheidung und den finanziellen Ruin treiben. Deshalb musste sie verschwinden. Es war nicht einfach gewesen, einen Weg zu finden. Zwar verfügte Edwin Möller über Geld, doch über keinerlei Kontakte ins kriminelle Milieu. Profikiller, die gegen Bares schnell und effizient die Schmutzarbeit übernahmen, kannte er nur vom Hörensagen. Entsprechend mühselig war es gewesen, das zu organisieren, was heute in weniger als einer Stunde seinen Abschluss finden sollte. Ein als Weihnachtsmann kostümierter Mann würde klingeln und sofort, wenn Marianne die Tür öffnete, auf sie schießen. Ehe alle begreifen würden, was da gerade geschehen war, wäre er schon wieder verschwunden. Niemand hätte sein Gesicht gesehen, das auch Edwin nicht kannte. Er hatte nur mit einem Mittelsmann verhandelt, dem er die zwanzigtausend Euro Anzahlung übergeben hatte. Weitere zwanzigtausend würden nach Auftragserfüllung fällig werden. Ein stolzer Preis, doch seine Freiheit war es ihm wert. Niemand würde Verdacht schöpfen, da war er sich sicher. Die Polizei würde auf einen Irren tippen, der im Weihnachtsmann-Kostüm wahllos Menschen niedermetzelte. Über ähnliche Fälle war schließlich bereits berichtet worden.

Ein Klingeln an der Haustür riss ihn aus seinen Gedanken. Schon? Der Kerl war fast eine halbe Stunde zu früh! Aber dann hätte er es wenigstens hinter sich. Er nahm Paul von Mariannes Schoß und zwinkerte ihr verstohlen zu. „Wer das wohl sein mag? Die Oma geht gleich mal nachschauen.“ Paul umklammerte nervös seine Hand. Indem Edwin ihm gut zuredete, versuchte er seine eigene Anspannung zu bezwingen. Gleich würde es vorbei sein! Ein dumpfes „Plopp“, denn der Profi würde natürlich einen Schalldämpfer verwenden, das Geräusch des Aufpralls eines Körpers auf dem Boden und dann… Weiter kam er nicht mit seinen Überlegungen. Marianne erschien in Begleitung eines kostümierten Mannes, von dessen Gesicht nur die dunklen Augen zu erkennen waren, im Wohnzimmer. „Ja, schaut mal, wer uns da besuchen kommt!“, rief sie erfreut. Paul versteckte sich hinter seinem Opa, der den Maskierten fassungslos anstarrte. Was sollte das denn jetzt? Hatte der die Instruktion nicht begriffen? Wollte er etwa hier im Wohnzimmer vor aller Augen die Kanone ziehen? Doch der Weihnachtsmann zog überhaupt keine Waffe, sondern das erste Geschenk aus dem Sack, den ihm Marianne in die Hand gedrückt haben musste. „Gibt es hier einen Jungen, der Paul heißt?“, fragte er. Während Paul hinter seinem Rücken hervorkam und sich von dem freundlichen Mann sogar dazu bewegen ließ, ein Gedicht aufzusagen, brach Edwin der Schweiß aus. Der Kerl verhöhnte ihn! Der Mittelsmann hatte ihm natürlich angemerkt, wie unbewandert er in Geschäften dieser Art war. Das hatte er skrupellos ausgenutzt, er hatte das Geld kassiert und sich ins Fäustchen gelacht. Einklagen konnte Edwin die Dienstleistung schließlich nicht. Aber jetzt noch so eine Show abzuziehen, das war wirklich der Gipfel! Die Verteilung der Geschenke rauschte an ihm vorüber, erst der vielstimmige Ruf: „Du bist dran, Opa!“, brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Das Päckchen, das ihm überreicht wurde, war in kariertes Papier eingewickelt. Ebenfalls kariert war das Stück Stoff, das er kurz darauf ratlos in der Hand hielt.

„Ist das ein Rock?“, fragte Paul mit erstaunt aufgerissenen Augen. „Das ist ein Kilt“, belehrte ihn seine Mutter. „In Schottland tragen das die Männer.“ Jetzt fiel es Edwin Möller wieder ein: Die Mottoparty von Dr. Weskamp anlässlich seines fünfzigsten Geburtstages. Er hatte sie alle in einen schottischen Pub eingeladen und um entsprechende Bekleidung gebeten. Seine Familie hatte offenbar vorgesorgt. „Anziehen, anziehen!“, erklang es nun vielstimmig. Mit seiner anfänglichen Weigerung kam er nicht durch. „Wir sind hier schließlich unter uns, nun zier dich nicht so“, meinte Marianne. Hinter einem hohen Sessel verborgen, ließ er wütend die Hose herunter. Dieser arrogante Affe von einem falschen Weihnachtsmann sollte nicht auch noch Augenzeuge seiner letzten Demütigung werden. Paul klatschte begeistert in die Hände, als er Edwin im Kilt sah. „Jetzt siehst du aus wie eine Oma. Fein, dann habe ich zwei Omas“, jubelte er.

„Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du jetzt überhaupt keine Oma mehr“, dachte Dr. Möller wütend.

„Der Junge hat nicht unrecht, bei deiner Frisur könnte man das wirklich denken“, bemerkte Marianne spitz. Ihm wurde richtiggehend übel vor Wut. Musste sie auch noch diese Platte auflegen? Ständig nörgelte sie an seiner fülligen, schulterlangen Haarpracht herum, hatte ihn deswegen sogar schon als „Hippie-Verschnitt“ bezeichnet. Dabei war die Alte nur neidisch auf seine Jugendlichkeit. Die würde ihm allerdings wenig nützen, wenn er weiterhin unter ihrer Fuchtel leben musste. Bitterkeit machte sich in ihm breit, sein Herz begann zu rasen, er fühlte Hitze in sich aufsteigen und einen bohrenden Schmerz hinter der Stirn erwachen. Offenbar spielte sein Blutdruck verrückt. Das fehlte gerade noch, dass er hier schlapp machte. Er musste an die frische Luft und zwar sofort. Ein Klingeln an der Tür brachte die Erlösung. Mit einem: „Ich gehe schon!“ und dem festen Vorsatz, sobald nicht zurückzukommen, stürzte er aus dem Zimmer.

Das Zurückkommen blieb ihm tatsächlich erspart. Die drinnen Versammelten hörten nur ein gedämpftes „Plopp“ und das Aufschlagen eines schweren Gegenstandes. Den davoneilenden Mann im roten Mantel sah hingegen keiner von ihnen. Dafür wurde er von der Nachbarin, Frau Schirmer, entdeckt. Sie winkte ihm aufgeregt zu, sah ihn aber nur noch um die Hausecke verschwinden und hörte gleich darauf einen davonfahrenden Wagen. Enttäuscht kehrte sie ins Haus zurück. „Er ist schon wieder weg“, sagte sie zu ihrem Mann. „Sicher war er sauer, schon einen Weihnachtsmann anzutreffen und den Weg umsonst gemacht zu haben. Ich sage dir, der Erste, der jetzt drüben die Bescherung macht, war eigentlich unser Mann. Du hättest bei der Agentur noch einmal betonen müssen, dass wir die Hausnummer 11a haben und nicht die 11. Ständig gibt es da Verwechselungen. Dass immer mal wieder Pakete für uns bei den Möllers abgegeben werden, ist ja nicht weiter schlimm, aber dass Lars nun in diesem Jahr keinen Besuch vom Weihnachtsmann bekommt, das ist schon traurig.

 

Osterüberraschungen

Osterüberraschungen

Ein Kurzkrimi von Fiona Limar

Als Herr Klitzig seinen morgendlichen Rundgang durch den Supermarkt absolvierte, traf ihn wieder einer dieser verheißungsvollen Blicke von Alice Müller, der ihn augenblicklich an Onkel Alberts Giftschränkchen denken ließ. Diese Assoziation war weder naheliegend, noch war sie ihm spontan gekommen. Vielmehr hatte sie im Verlaufe der vergangenen Wochen und Monate allmählich Gestalt angenommen, genau genommen, seit er zum Filialleiter der Lebensmittelkette Eldermann aufgestiegen war. Plötzlich sahen ihn die Frauen mit ganz anderen Augen an, denn er war mit seinen 42 Jahren nicht nur ein ansehnlicher, sondern nunmehr auch ein erfolgreicher Mann. Er könnte völlig neu durchstarten, in seinen Gedanken sah er sich an fernen, sonnigen Stränden, mit einer Frau wie der rothaarigen, wohlgeformten  Alice Müller an seiner Seite. Der Verwirklichung dieser schwülen Träume stand allerdings seine nüchterne, angegraute Ehefrau Anna im Wege, von der eine Scheidung nicht infrage kam, weil sie ihn finanziell hart treffen würde. Denn Anna gehörte nicht nur das von ihren Eltern ererbte Haus, sondern auch ein beträchtliches Barvermögen, das ihr eine reiche Tante hinterlassen hatte. Herr Klitzig selbst war ebenfalls in den Genuss eines Erbes gekommen, allerdings bestand dieses lediglich aus dem Nachlass seines Onkels Albert, der den Prototyp einer gescheiterten Existenz verkörpert hatte. Er war ein Chemiker gewesen, der nur selten mit einer geregelten Arbeit, dafür aber mit ausgefallenen Ideen aufwarten konnte. Alchemistische Experimente waren sein Steckenpferd gewesen und alles, was er seinen Neffen vermacht hatte, waren mehrere Notizbücher mit unleserlichen Aufzeichnungen sowie ein Kästchen mit teils hochgiftigen Chemikalien gewesen. Anna hatte darauf gedrungen, letzteres schleunigst zu vernichten, doch Herrn Klitzig widerstrebte es grundsätzlich, sich von etwas zu trennen, was er einmal besaß. Und plötzlich bekam es eine ganz neue Bedeutung. In dem Maße, wie die Blicke aus den smaragdgrünen Augen von Alice die Wünsche von Herrn Klitzig anwachsen ließen, wuchs auch sein Interesse an den ererbten Giften. Hochwirksames Cyanid befand sich darunter, das könnte den Scheidungsrichter ersetzen und die schnelle Lösung all seiner Probleme herbeiführen. Doch ganz so einfach war es natürlich nicht. Der Verdacht dürfte sofort auf ihn fallen, da er vom Tod seiner Ehefrau profitieren würde. Wenn es allerdings gelänge, einen Selbstmord zu fingieren, oder eine versehentliche Vergiftung… Eine Weile grübelte er vor sich hin, um sich dann auf die Stirn zu schlagen: Die Lösung war so einfach und so absolut genial! Er würde eine Erpressung der Eldermann-Märkte vortäuschen. Die dabei angedrohte Vergiftung von Lebensmitteln würde ein einziges Opfer fordern – seine Frau. Selbst wenn man ihn trotzdem verdächtigen sollte, kein Gericht der Welt würde ihn unter diesen Umständen verurteilen können. Im Zweifel für den Angeklagten.

Gleich am nächsten Tag machte er sich an die Umsetzung seines Plans. Zuerst entwarf er das Erpresserschreiben.  Darin forderte er zwei Millionen und drohte anderenfalls damit, Artikel aus dem österlichen Süßwarensortiment zu vergiften. So kurz vor dem Fest fand er das sehr wirksam. „Keine Polizei“ schrieb er darunter. Natürlich würde sich der korrekte Herr Eldermann keinesfalls daran halten, und genau damit ließe sich die Rache des Erpressers begründen, die ausgerechnet seine ahnungslose Frau treffen sollte. Um keine Spuren zu hinterlassen, beschloss er den Brief auf ganz klassische Art zu verfassen, mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben. Leider hatte er keinerlei Presseerzeugnisse im Haus und sie einfach an irgendeinem Kiosk zu erwerben, erschien ihm plötzlich auch zu auffällig. Zum Glück fiel ihm die Zeitschriftensammlung seiner Frau Anna ein. In einer Kammer lagerten Unmengen von verstaubten Koch- und Backheften. Niemals würde sie bemerken, wenn er sich dort bediente. Wahllos zog er einige Hefte aus dem Stapel heraus und begab sich damit in seinen Hobbykeller. Mit Gummihandschuhen ausgerüstet, fabrizierte er das Schreiben, das er am nächsten Morgen am Hauptbahnhof in einen Kasten warf. Die Wirkung zeigte sich sehr schnell. Zwei Tage später wurde ihm ein neuer Hausdetektiv vorgestellt, der offensichtlich besonders die Süßwarenabteilung im Auge behielt. Herr Klitzig hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es sich in Wirklichkeit um einen Polizeibeamten handelte. Am gleichen Abend noch begab er sich in den Hobbykeller und verfasste dort den zweiten, entscheidenden Brief. „Sie haben sich nicht an die Abmachung gehalten – das werden Sie bereuen!“, schrieb er. Er warf ihn wieder am Hauptbahnhof ein und erwarb noch am gleichen Tag in seiner Filiale eine Schachtel edler gefüllter Schokoladeneier. Eines davon öffnete er am Abend im Keller mit einer heißen Stricknadel. Er ließ der Eierlikör auslaufen, vermischte ihn mit dem Cyanid und gab die tödliche Mischung mit Hilfe einer Pipette in das Ei zurück. Die Öffnung verschloss er nach leichtem Erhitzen sorgfältig. Das Ergebnis war perfekt, Anna würde keinen Verdacht  schöpfen. Bei ihrer Vorliebe für Süßes würden die Pralinen Ostern nicht überleben. Und sie selbst ebenfalls nicht. Herr Klitzig war mit sich zufrieden und voller Zuversicht. Er verbrannte die Zeitschriften und vergrub die verkohlten Reste zusammen mit dem Gift und den Gummihandschuhen unter wilden Brombeeren in einer Gartenecke.

Beim Abendessen teilte ihm seine Frau beiläufig mit, dass ihr Bruder am Ostersonntag vorbei schauen würde.

„Wieso das denn?“, erwiderte er erstaunt.

„Er hat über Ostern frei und will sich in der Hauptstadt umsehen. Da ist es doch nur verständlich, dass er uns einen Besuch abstattet.“ Verständlich war es schon, wenn auch äußerst ungewöhnlich. Annas Bruder war Kriminalhauptkommissar in Essen und beruflich sehr eingespannt. Seine Ehe war daran gescheitert und seitdem vergrub er sich noch mehr in Arbeit. Doch eigentlich war dieser überraschende Besuch durchaus von Vorteil. Er würde Zeuge des plötzlichen Todes seiner Schwester werden, natürlich auf Aufklärung drängen und von Berufs wegen mehr erfahren, als gewöhnlich Sterbliche. So würde die Erpressung sofort zur Sprache kommen und erst gar kein anderer Verdacht geäußert werden. Herr Klitzig fand, dass das Schicksal auf seiner Seite war.

Alles lief dann auch planmäßig. Am Sonntagmorgen zeigte sich Anna hoch erfreut über sein liebevolles Präsent. Sie stellte die Pralinenschachtel auf der Kommode ab, während sie in der Küche den Brunch vorbereitete. Kaum hatten sie sich zum Essen an den Tisch gesetzt, klingelte es auch schon. „Das wird Eckard sein“, sagte Anna und eilte zur Tür. Zu Herrn Klitzigs Überraschung kam sie jedoch nicht nur mit dem Schwager, sondern in Begleitung eines weiteren Herrn zurück.

„Hauptkommissar Schulz, Kripo Berlin“, stellte der sich vor. Herr Klitzig beobachtete mit offenem Munde, wie Anna auf den Beamten zuging und ihm die Pralinenschachtel in die Hand drückte. Der lächelte triumphierend.

„Herr Klitzig, ich verhafte sie wegen Erpressung der Firma Eldermann. Eine Anklage wegen versuchten Mordes wird vermutlich noch hinzukommen.“

„Ich verstehe nicht…“, stammelte  der hilflos, was der Wahrheit entsprach.

„Wirklich nicht, Schwager?“ Annas Bruder lächelte maliziös. „Dann will ich dich aufklären. Anna vermisste einige ihrer Zeitschriften. Sie glaubte, du hättest sie als Unterlage für irgendwelche Heimwerkertätigkeiten missbraucht und im Hobbykeller danach gesucht. Dabei stieß sie auf die unzweideutigen Spuren deiner Briefbasteleien. Sie rief mich sofort an und die Berliner Kollegen informierten mich über die Erpressung bei Eldermann.“

„So war es“, übernahm der Kollege das Wort. „Nur war dieser Erpressungsversuch so dilettantisch ausgeführt, dass wir sofort vermuteten, es müsste etwas anderes dahinter stecken. Nämlich die Vertuschung einer anderen geplanten Straftat. Ich gehe jede Wette ein, dass ich den Beweis dafür in der Hand halte. Ihre Frau war natürlich von uns gewarnt worden.“ Er schwenkte die Pralinenschachtel.

Herr Klitzig begriff, dass er verloren hatte. Was er nicht begriff, war, dass seiner Frau das Fehlen der Zeitschriften aufgefallen war. Und wieso hatte sie so verbissen danach gesucht? Sie ging doch sonst nie in den Hobbykeller! Da ohnehin alles verloren war, stellte er die Frage laut.

„Du hattest die Osterausgaben erwischt“, sagte sie. „Ich habe nach einem bestimmten Rezept für Osterbrot gesucht.“

An die beiden Kommissare gewandt fügte sie fast entschuldigend hinzu: „Ich wollte meinen Mann damit überraschen.“

Ein mörderisch gutes Fest

Ein mörderisch gutes Fest

Ein Weihnachtskrimi von Fiona Limar

Die Klinge des Messers war lang und schmal und glitzerte bedrohlich, doch seine Schneide war stumpf. Als Herr Kleinhuber sie behutsam in den Dresdener Stollen drückte, löste er dadurch eine gewaltige Erosion aus Kuchenkrümeln und Rosinen aus, die rechts und links auf die mit künstlichen Ilexzweigen geschmückte Kuchenplatte herabrieselten.

„Himmel Herrgott, der Mann ist doch tatsächlich sogar zu blöd, eine Stolle aufzuschneiden!“ Die Schärfe in Mathilde Kleinhubers Stimme übertraf die des Messers um Lichtjahre. „Wir erwarten Besuch“, keifte sie, „und ich muss mal wieder alles allein machen! Weil du einfach nichts Vernünftiges zustande bringst!“

Herr Kleinhuber verkniff sich die Bemerkung, dass sie die letzten geschlagenen zwei Stunden ausschließlich damit zugebracht hatte, den Inhalt ihrer Kleiderschränke von vorn bis hinten durchzuprobieren. Das Ergebnis konnte allerdings kaum überzeugen. Durch das giftgrüne Seidenkleid wurden die hektischen roten Flecken auf ihrem Hals unschön hervorgehoben, und außerdem wirkte Mathilde Kleinhuber darin wie einzementiert. Ein Klingeln an der Tür verhinderte weitere Schimpftiraden. „Willst du nicht öffnen gehen?“, herrschte sie stattdessen ihren Mann an. „Das wird der Partyservice sein.“

Herr Kleinhuber trottete gehorsam zur Tür und erst draußen fiel ihm auf, dass er das Messer noch immer in der Hand hielt. Er legte es auf dem Fenstersims ab. An der Gartenpforte stand ein Partyservice-Mitarbeiter, von dem nur die Beine zu sehen waren, darüber erhob sich ein schwankender Turm aus Paletten. Herr Kleinhuber seufzte innerlich, als er den Empfang quittierte. 14 große Platten für 6 Personen, das war doch Wahnsinn! Aber wenn es darum ging, ihre spießigen Bekannten zu übertrumpfen, dann schreckte Mathilde vor nichts zurück, schon gar nicht vor der sinnlosen Vergeudung von Lebensmitteln. Herr Kleinhuber musste mehrmals laufen, um alles nach drinnen zu schaffen. Sein Blick blieb dabei an der Vorderfront des Hauses hängen, dessen schlichte Klinkerfassade von einem babylonischen Gewirr aus Lichterketten und Leuchtfiguren fast völlig verdeckt wurde. Jetzt war der Anblick noch einigermaßen erträglich, doch bei Einbruch der Dunkelheit würde das Haus leuchten, blinken und flimmern wie eine Schießbude auf dem Rummelplatz. Der Vergleich gefiel Herrn Kleinhuber, er ergötzte sich an der Vorstellung, drei Schuss frei zu haben. Worauf würde er dann zuerst zielen? Vielleicht auf das rachitische Rentier, dem ein anatomisch unterbelichteter Designer die Beine seitenverkehrt in den mageren Leib gesteckt hatte? Oder doch lieber auf den adipösen Engel mit den lächerlich kleinen Flügeln, der wie ein aufgescheuchtes Masthuhn aussah? Nein, sein erster Schuss würde Mathildes neuester Errungenschaft gelten, diesem scheußlichen, übermannsgroßen, aufblasbaren Weihnachtsmann. Herrn Kleinhuber kam er wie eine missglückte Kreuzung aus Michelinmännchen und Meister Proper vor. Leider hatte er das auch laut geäußert und deshalb tagelang Mathildes Beschimpfungen über sich ergehen lassen müssen: Erstens wegen seines fehlenden Geschmackes und zweitens wegen seiner mangelnden Bereitschaft, ebenfalls an der Verschönerung des Hauses mitzuwirken. Also hatte er sich fortan lieber in Schweigen gehüllt.

Die nächste halbe Stunde verging damit, die Platten in immer neuen, möglichst eindrucksvollen Anordnungen, auf dem Buffet zu arrangieren. Plötzlich schlug sich Mathilde Kleinhuber an die Stirn.

„Die Außenbeleuchtung!“, rief sie. „Wir haben noch nicht probiert, ob alles funktioniert.“

Sie stürzte nach draußen um das unverzüglich nachzuholen, während Herr Kleinhuber angewiesen war, diverse Stecker in dem eigens dafür installierten Starkstromanschluss im Flur zu platzieren. Er hatte seine Aufgabe noch nicht vollendet, als er Mathildes Schrei hörte, so schrill und voller Entsetzen, dass es ihm eiskalt über den Rücken lief. Herr Kleinhuber riss die Tür auf und erkannte sogleich das ganze schaurige Ausmaß der Tragödie. Wo gerade noch der aufgeblasene Weihnachtsmann gestanden hatte, bedeckte jetzt nur noch eine verschrumpelte Kunststoffplane den verschneiten Boden. Da sie rot war, konnte man sie bei flüchtigem Hinsehen tatsächlich für eine Blutlache halten. In ihrem Zentrum stecke unübersehbar ein Messer, jenes Messer, das Herr Kleinhuber auf dem Fenstersims vergessen hatte. Lediglich aus den Beinen des unglücklichen Weihnachtsmannes war die Luft noch nicht vollständig entwichen. Dadurch ragten sie V-förmig in die Höhe und boten so einen geradezu obszönen Anblick: Als sollte hier für etwas geworben werden, das sich nicht ohne weiteres mit Weihnachten in Verbindung bringen ließ. Herr Kleinhuber musste unwillkürlich grinsen und schaffte es leider nicht rechtzeitig, seine Gesichtszüge wieder zur Ordnung zu rufen, bevor sich seine Frau ihm zuwandte. Sie ging wie eine Furie auf ihn los.

„Du verdammtes Schwein, du bist das gewesen! Du konntest den Weihnachtsmann ja gleich nicht leiden. Aber ihn deshalb einfach abzustechen, das ist doch der Gipfel der Gemeinheit!“ Herr Kleinhuber versuchte erschrocken, sie zu beruhigen.

„Mathilde, ich war das nicht, so etwas würde ich doch nie tun.“

„Du elender Feigling, auch noch so plump zu lügen!“, kreischte seine Frau. „Hier ist der Beweis!“

Plötzlich hielt sie das Messer in der Hand und schien fest entschlossen, Herrn Kleinhuber das gleiche Schicksal zu bereiten wie dem entseelten Weihnachtsmann. Der versuchte verzweifelt, ihr auszuweichen und sie zu entwaffnen, was sich auf dem rutschigen Boden als äußerst schwierig erwies. Es wurde ein langes, zähes Ringen. Im Nachbarhaus stand bereits seit geraumer Zeit ein Fenster offen und hinter den Gardinen waren lebhafte Personenbewegungen zu verzeichnen. Doch nicht einmal das konnte Mathilde von ihren Mordabsichten abbringen. „Ich steche dich auch ab“, keuchte sie immer wieder. Endlich gelang es Herrn Kleinhuber, ihr das Messer zu entwinden und sie stürzte wütend ins Haus.

Herr Kleinhuber wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann ließ er mit Hilfe des Messers die Luft aus den Weihnachtsmannbeinen entweichen, rollte die Hülle säuberlich auf und stopfte sie in die Mülltonne. Hinter der Hecke konnte er ein leises Kichern vernehmen und sah zwei leuchtend rote Schöpfe eilig abtauchen, als er zu ihnen hinüber blickte. Natürlich, die beiden Bengel von Gegenüber, die von Mathilde wegen jeder Kleinigkeit angeschnauzt wurden, hatten jetzt wohl ihr Mütchen an ihr gekühlt. Irgendwie konnte er es ihnen nicht verdenken. Er hatte die Haustür noch nicht wieder ganz erreicht, als er drinnen das verräterische Scheppern und Klirren hörte. Auf das Höchste alarmiert riss er die Tür auf und sah Mathilde mit einem boshaften Lächeln inmitten der Trümmer seiner Vitrine stehen, eben jener Vitrine, in der er die wertvollsten Lokomotiven seiner Modelleisenbahn aufbewahrte. Gerade hob sie den Fuß, in der unverkennbaren Absicht, einer besonders seltenen Dampflok den Todesstoß zu versetzen. Herr Kleinhuber wollte sie beherzt daran hindern und übersah dabei leider, dass sie mit einer Glasscherbe bewaffnet war. Wie ein Falke im Sturzflug schoss ihre Hand auf ihn zu, Blut tropfte zu Boden und Herr Kleinhuber hielt sich erschrocken seine brennende Wange. „Jetzt mache ich dein Spielzeug auch kaputt“, heulte Mathilde, „und wenn du näher kommst, steche ich dich ab!“ Ein energisches Klopfen an der Haustür ließ sie in der Bewegung erstarren.

„Polizei, öffnen Sie sofort die Tür!“, verlangte eine tiefe Männerstimme unmissverständlich. Herr Kleinhuber, der vor Mathilde zurückgewichen war, drückte benommen auf die Klinke und ließ zwei uniformierte Beamte ein, einen älteren korpulenten Mann und eine junge Frau mit einem blonden Pferdeschwanz. „Wir wurden zu einem Ehestreit …“, setzte der Polizist an und ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Erschüttert musterte er die Szene, die sich seinen Augen bot.

„Geben Sie mir die Scherbe“, forderte er Frau Kleinhuber in einem Tonfall auf, der jedem Therapeuten Ehre gemacht hätte. „Seien Sie vernünftig, Sie haben Ihren Mann bereits verletzt, machen Sie es nicht noch schlimmer.“

„Fragen Sie lieber, was er gemacht hat!“, begehrte Frau Kleinhuber auf. „Er hat den Weihnachtsmann abgestochen.“

Der Beamte warf seiner jungen Kollegin einen bedeutungsvollen Blick zu, woraufhin sie kurz in einem Nebenraum verschwand.

„Los, sag der Polizei wie du den Weihnachtsmann abgestochen hast, mit dem Messer da!“ Mathilde deutete auf das Corpus Delicti in der Hand von Herrn Kleinhuber.

„Ich habe einen Stollen damit aufgeschnitten“, sagte der leise, “ ich begreife nicht, was meine Frau da redet.“

Mit diesen Worten hatte er bei ihr genau den richtigen Nerv getroffen. Das unartikulierte Wutgeschrei, das sie daraufhin anstimmte, schien sogar die beiden Polizisten völlig zu überfordern. Die Sanitäter, die unmittelbar darauf das Haus betraten, blieben dagegen ganz gelassen.

„Ein typischer Fall von Festtagskoller“, sagte der eine. „Hatte ihre Frau viel Stress?“

„Sie hatte für heute Gäste eingeladen und sich mit den Vorbereitungen wohl ziemlich übernommen“, erklärte Herr Kleinhuber treuherzig.

„Da ist sie nicht die Einzige“, meinte der andere Sanitäter verständnisvoll. „Sie braucht nur ein paar Tage absolute Ruhe, dann kommt sie wieder in Ordnung.“ Sie bugsierten die zeternde Frau Kleinhuber in den wartenden Krankenwagen und stimmten ihr beflissen zu, als sie vor der Tür lautstark anmerkte, dieser Mistkerl müsse den abgestochenen Weihnachtsmann beiseite geschafft haben.

Ein paar Stunden später saß Herr Kleinhuber gemütlich in seinem Lieblingssessel und hielt ein Glas Whisky in der Hand. Vor ihm auf dem Teppich drehte die Modelleisenbahn munter ihre Runden. „Ein schönes, friedliches Fest“, hatte ihm die Mitarbeiterin des Asylbewerberheimes gewünscht, als er die Platten mit dem kalten Buffet dort abgegeben hatte. Oh ja, dieser Wunsch hatte sich erfüllt. Herr Kleinhuber hob sein Glas und prostete in Richtung der Mülltonne, in der der glücklose Weihnachtsmann seine letzte Ruhe gefunden hatte. „Dein Tod war nicht umsonst Kumpel“, sagte er fast ein wenig gerührt. „Er hat mir ein mörderisch gutes Fest beschert.“