Ein Kurzkrimi von Fiona Limar
Dr. Edwin Möller nestelte an seiner Krawatte herum, klaubte einen heruntergefallenen Lamettafaden vom Teppich auf und tat dann so, als würde er eine Kerze am Weihnachtsbaum zurechtrücken. Er war nervös, wollte es sich aber um keinen Preis anmerken lassen. Alle sollten sich hinterher daran erinnern, dass er an diesem Abend völlig entspannt gewesen war. Anwesend waren seine Tochter Nora mit ihrem Mann Christian und Sprössling Paul sowie sein Sohn Dietrich mit Freundin Kathrin. Während Ehefrau Marianne den Tisch abwischte und eine weihnachtliche Decke darüber ausbreitete, schaute Dr. Edwin Möller unauffällig auf die Uhr. Sie waren zu früh mit dem Essen fertig! Noch fast eine Stunde bis zum Showdown.
„Opa, wann kommt denn nun der Weihnachtsmann?“ Die Stimme von Enkel Paul ließ ihn zusammenzucken. Opa! Wie sich das schon anhörte. Er war schließlich ein Mann im besten Alter und sah ganz und gar nicht wie ein Opa aus. Darin unterschied er sich völlig von Marianne, die sich in ihrer Oma-Rolle ausgesprochen wohlzufühlen schien. Jetzt beugte sie sich zu Paul hinunter und tätschelte ihm liebevoll den Kopf. „Ein wenig musst du dich noch gedulden. Soll die Oma dir solange etwas vorlesen?“ Sie griff nach dem bereitliegenden Märchenbuch und setzte sich ihre Brille auf die Nase. Paul kletterte strahlend auf ihren Schoß. Edwin musterte sie verstohlen. Alt war sie geworden, wenn sie beim Lesen den Kopf gesenkt hielt, fiel die schlaffe, faltige Haut an ihrem Hals noch deutlicher auf. Leicht angewidert wandte er seinen Blick ab, schaute stattdessen verstohlen zu Kathrin hinüber. Frisch und appetitlich wie ein knackiger Apfel sah sie aus und ihre Beine, die in einer aufregend gemusterten Strumpfhose steckten, schienen bis zum Himmel zu reichen. Von ihrer Sorte liefen viele herum, und so manche war nicht abgeneigt, einen erfolgreichen, gestanden Mann wie ihn, ein wenig von ihrer Süße kosten zu lassen. Warum sollte er sich da – um im Bilde zu bleiben – mit verwelktem Gemüse begnügen? Natürlich hatte Marianne nicht das geringste Verständnis für seine Wünsche. Bei ihrer prüden Moralauffassung würde sie ihn wegen der geringsten Verfehlung in eine schmutzige Scheidung und den finanziellen Ruin treiben. Deshalb musste sie verschwinden. Es war nicht einfach gewesen, einen Weg zu finden. Zwar verfügte Edwin Möller über Geld, doch über keinerlei Kontakte ins kriminelle Milieu. Profikiller, die gegen Bares schnell und effizient die Schmutzarbeit übernahmen, kannte er nur vom Hörensagen. Entsprechend mühselig war es gewesen, das zu organisieren, was heute in weniger als einer Stunde seinen Abschluss finden sollte. Ein als Weihnachtsmann kostümierter Mann würde klingeln und sofort, wenn Marianne die Tür öffnete, auf sie schießen. Ehe alle begreifen würden, was da gerade geschehen war, wäre er schon wieder verschwunden. Niemand hätte sein Gesicht gesehen, das auch Edwin nicht kannte. Er hatte nur mit einem Mittelsmann verhandelt, dem er die zwanzigtausend Euro Anzahlung übergeben hatte. Weitere zwanzigtausend würden nach Auftragserfüllung fällig werden. Ein stolzer Preis, doch seine Freiheit war es ihm wert. Niemand würde Verdacht schöpfen, da war er sich sicher. Die Polizei würde auf einen Irren tippen, der im Weihnachtsmann-Kostüm wahllos Menschen niedermetzelte. Über ähnliche Fälle war schließlich bereits berichtet worden.
Ein Klingeln an der Haustür riss ihn aus seinen Gedanken. Schon? Der Kerl war fast eine halbe Stunde zu früh! Aber dann hätte er es wenigstens hinter sich. Er nahm Paul von Mariannes Schoß und zwinkerte ihr verstohlen zu. „Wer das wohl sein mag? Die Oma geht gleich mal nachschauen.“ Paul umklammerte nervös seine Hand. Indem Edwin ihm gut zuredete, versuchte er seine eigene Anspannung zu bezwingen. Gleich würde es vorbei sein! Ein dumpfes „Plopp“, denn der Profi würde natürlich einen Schalldämpfer verwenden, das Geräusch des Aufpralls eines Körpers auf dem Boden und dann… Weiter kam er nicht mit seinen Überlegungen. Marianne erschien in Begleitung eines kostümierten Mannes, von dessen Gesicht nur die dunklen Augen zu erkennen waren, im Wohnzimmer. „Ja, schaut mal, wer uns da besuchen kommt!“, rief sie erfreut. Paul versteckte sich hinter seinem Opa, der den Maskierten fassungslos anstarrte. Was sollte das denn jetzt? Hatte der die Instruktion nicht begriffen? Wollte er etwa hier im Wohnzimmer vor aller Augen die Kanone ziehen? Doch der Weihnachtsmann zog überhaupt keine Waffe, sondern das erste Geschenk aus dem Sack, den ihm Marianne in die Hand gedrückt haben musste. „Gibt es hier einen Jungen, der Paul heißt?“, fragte er. Während Paul hinter seinem Rücken hervorkam und sich von dem freundlichen Mann sogar dazu bewegen ließ, ein Gedicht aufzusagen, brach Edwin der Schweiß aus. Der Kerl verhöhnte ihn! Der Mittelsmann hatte ihm natürlich angemerkt, wie unbewandert er in Geschäften dieser Art war. Das hatte er skrupellos ausgenutzt, er hatte das Geld kassiert und sich ins Fäustchen gelacht. Einklagen konnte Edwin die Dienstleistung schließlich nicht. Aber jetzt noch so eine Show abzuziehen, das war wirklich der Gipfel! Die Verteilung der Geschenke rauschte an ihm vorüber, erst der vielstimmige Ruf: „Du bist dran, Opa!“, brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Das Päckchen, das ihm überreicht wurde, war in kariertes Papier eingewickelt. Ebenfalls kariert war das Stück Stoff, das er kurz darauf ratlos in der Hand hielt.
„Ist das ein Rock?“, fragte Paul mit erstaunt aufgerissenen Augen. „Das ist ein Kilt“, belehrte ihn seine Mutter. „In Schottland tragen das die Männer.“ Jetzt fiel es Edwin Möller wieder ein: Die Mottoparty von Dr. Weskamp anlässlich seines fünfzigsten Geburtstages. Er hatte sie alle in einen schottischen Pub eingeladen und um entsprechende Bekleidung gebeten. Seine Familie hatte offenbar vorgesorgt. „Anziehen, anziehen!“, erklang es nun vielstimmig. Mit seiner anfänglichen Weigerung kam er nicht durch. „Wir sind hier schließlich unter uns, nun zier dich nicht so“, meinte Marianne. Hinter einem hohen Sessel verborgen, ließ er wütend die Hose herunter. Dieser arrogante Affe von einem falschen Weihnachtsmann sollte nicht auch noch Augenzeuge seiner letzten Demütigung werden. Paul klatschte begeistert in die Hände, als er Edwin im Kilt sah. „Jetzt siehst du aus wie eine Oma. Fein, dann habe ich zwei Omas“, jubelte er.
„Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du jetzt überhaupt keine Oma mehr“, dachte Dr. Möller wütend.
„Der Junge hat nicht unrecht, bei deiner Frisur könnte man das wirklich denken“, bemerkte Marianne spitz. Ihm wurde richtiggehend übel vor Wut. Musste sie auch noch diese Platte auflegen? Ständig nörgelte sie an seiner fülligen, schulterlangen Haarpracht herum, hatte ihn deswegen sogar schon als „Hippie-Verschnitt“ bezeichnet. Dabei war die Alte nur neidisch auf seine Jugendlichkeit. Die würde ihm allerdings wenig nützen, wenn er weiterhin unter ihrer Fuchtel leben musste. Bitterkeit machte sich in ihm breit, sein Herz begann zu rasen, er fühlte Hitze in sich aufsteigen und einen bohrenden Schmerz hinter der Stirn erwachen. Offenbar spielte sein Blutdruck verrückt. Das fehlte gerade noch, dass er hier schlapp machte. Er musste an die frische Luft und zwar sofort. Ein Klingeln an der Tür brachte die Erlösung. Mit einem: „Ich gehe schon!“ und dem festen Vorsatz, sobald nicht zurückzukommen, stürzte er aus dem Zimmer.
Das Zurückkommen blieb ihm tatsächlich erspart. Die drinnen Versammelten hörten nur ein gedämpftes „Plopp“ und das Aufschlagen eines schweren Gegenstandes. Den davoneilenden Mann im roten Mantel sah hingegen keiner von ihnen. Dafür wurde er von der Nachbarin, Frau Schirmer, entdeckt. Sie winkte ihm aufgeregt zu, sah ihn aber nur noch um die Hausecke verschwinden und hörte gleich darauf einen davonfahrenden Wagen. Enttäuscht kehrte sie ins Haus zurück. „Er ist schon wieder weg“, sagte sie zu ihrem Mann. „Sicher war er sauer, schon einen Weihnachtsmann anzutreffen und den Weg umsonst gemacht zu haben. Ich sage dir, der Erste, der jetzt drüben die Bescherung macht, war eigentlich unser Mann. Du hättest bei der Agentur noch einmal betonen müssen, dass wir die Hausnummer 11a haben und nicht die 11. Ständig gibt es da Verwechselungen. Dass immer mal wieder Pakete für uns bei den Möllers abgegeben werden, ist ja nicht weiter schlimm, aber dass Lars nun in diesem Jahr keinen Besuch vom Weihnachtsmann bekommt, das ist schon traurig.