Ein mörderisch gutes Fest

Ein mörderisch gutes Fest

Ein Weihnachtskrimi von Fiona Limar

Die Klinge des Messers war lang und schmal und glitzerte bedrohlich, doch seine Schneide war stumpf. Als Herr Kleinhuber sie behutsam in den Dresdener Stollen drückte, löste er dadurch eine gewaltige Erosion aus Kuchenkrümeln und Rosinen aus, die rechts und links auf die mit künstlichen Ilexzweigen geschmückte Kuchenplatte herabrieselten.

„Himmel Herrgott, der Mann ist doch tatsächlich sogar zu blöd, eine Stolle aufzuschneiden!“ Die Schärfe in Mathilde Kleinhubers Stimme übertraf die des Messers um Lichtjahre. „Wir erwarten Besuch“, keifte sie, „und ich muss mal wieder alles allein machen! Weil du einfach nichts Vernünftiges zustande bringst!“

Herr Kleinhuber verkniff sich die Bemerkung, dass sie die letzten geschlagenen zwei Stunden ausschließlich damit zugebracht hatte, den Inhalt ihrer Kleiderschränke von vorn bis hinten durchzuprobieren. Das Ergebnis konnte allerdings kaum überzeugen. Durch das giftgrüne Seidenkleid wurden die hektischen roten Flecken auf ihrem Hals unschön hervorgehoben, und außerdem wirkte Mathilde Kleinhuber darin wie einzementiert. Ein Klingeln an der Tür verhinderte weitere Schimpftiraden. „Willst du nicht öffnen gehen?“, herrschte sie stattdessen ihren Mann an. „Das wird der Partyservice sein.“

Herr Kleinhuber trottete gehorsam zur Tür und erst draußen fiel ihm auf, dass er das Messer noch immer in der Hand hielt. Er legte es auf dem Fenstersims ab. An der Gartenpforte stand ein Partyservice-Mitarbeiter, von dem nur die Beine zu sehen waren, darüber erhob sich ein schwankender Turm aus Paletten. Herr Kleinhuber seufzte innerlich, als er den Empfang quittierte. 14 große Platten für 6 Personen, das war doch Wahnsinn! Aber wenn es darum ging, ihre spießigen Bekannten zu übertrumpfen, dann schreckte Mathilde vor nichts zurück, schon gar nicht vor der sinnlosen Vergeudung von Lebensmitteln. Herr Kleinhuber musste mehrmals laufen, um alles nach drinnen zu schaffen. Sein Blick blieb dabei an der Vorderfront des Hauses hängen, dessen schlichte Klinkerfassade von einem babylonischen Gewirr aus Lichterketten und Leuchtfiguren fast völlig verdeckt wurde. Jetzt war der Anblick noch einigermaßen erträglich, doch bei Einbruch der Dunkelheit würde das Haus leuchten, blinken und flimmern wie eine Schießbude auf dem Rummelplatz. Der Vergleich gefiel Herrn Kleinhuber, er ergötzte sich an der Vorstellung, drei Schuss frei zu haben. Worauf würde er dann zuerst zielen? Vielleicht auf das rachitische Rentier, dem ein anatomisch unterbelichteter Designer die Beine seitenverkehrt in den mageren Leib gesteckt hatte? Oder doch lieber auf den adipösen Engel mit den lächerlich kleinen Flügeln, der wie ein aufgescheuchtes Masthuhn aussah? Nein, sein erster Schuss würde Mathildes neuester Errungenschaft gelten, diesem scheußlichen, übermannsgroßen, aufblasbaren Weihnachtsmann. Herrn Kleinhuber kam er wie eine missglückte Kreuzung aus Michelinmännchen und Meister Proper vor. Leider hatte er das auch laut geäußert und deshalb tagelang Mathildes Beschimpfungen über sich ergehen lassen müssen: Erstens wegen seines fehlenden Geschmackes und zweitens wegen seiner mangelnden Bereitschaft, ebenfalls an der Verschönerung des Hauses mitzuwirken. Also hatte er sich fortan lieber in Schweigen gehüllt.

Die nächste halbe Stunde verging damit, die Platten in immer neuen, möglichst eindrucksvollen Anordnungen, auf dem Buffet zu arrangieren. Plötzlich schlug sich Mathilde Kleinhuber an die Stirn.

„Die Außenbeleuchtung!“, rief sie. „Wir haben noch nicht probiert, ob alles funktioniert.“

Sie stürzte nach draußen um das unverzüglich nachzuholen, während Herr Kleinhuber angewiesen war, diverse Stecker in dem eigens dafür installierten Starkstromanschluss im Flur zu platzieren. Er hatte seine Aufgabe noch nicht vollendet, als er Mathildes Schrei hörte, so schrill und voller Entsetzen, dass es ihm eiskalt über den Rücken lief. Herr Kleinhuber riss die Tür auf und erkannte sogleich das ganze schaurige Ausmaß der Tragödie. Wo gerade noch der aufgeblasene Weihnachtsmann gestanden hatte, bedeckte jetzt nur noch eine verschrumpelte Kunststoffplane den verschneiten Boden. Da sie rot war, konnte man sie bei flüchtigem Hinsehen tatsächlich für eine Blutlache halten. In ihrem Zentrum stecke unübersehbar ein Messer, jenes Messer, das Herr Kleinhuber auf dem Fenstersims vergessen hatte. Lediglich aus den Beinen des unglücklichen Weihnachtsmannes war die Luft noch nicht vollständig entwichen. Dadurch ragten sie V-förmig in die Höhe und boten so einen geradezu obszönen Anblick: Als sollte hier für etwas geworben werden, das sich nicht ohne weiteres mit Weihnachten in Verbindung bringen ließ. Herr Kleinhuber musste unwillkürlich grinsen und schaffte es leider nicht rechtzeitig, seine Gesichtszüge wieder zur Ordnung zu rufen, bevor sich seine Frau ihm zuwandte. Sie ging wie eine Furie auf ihn los.

„Du verdammtes Schwein, du bist das gewesen! Du konntest den Weihnachtsmann ja gleich nicht leiden. Aber ihn deshalb einfach abzustechen, das ist doch der Gipfel der Gemeinheit!“ Herr Kleinhuber versuchte erschrocken, sie zu beruhigen.

„Mathilde, ich war das nicht, so etwas würde ich doch nie tun.“

„Du elender Feigling, auch noch so plump zu lügen!“, kreischte seine Frau. „Hier ist der Beweis!“

Plötzlich hielt sie das Messer in der Hand und schien fest entschlossen, Herrn Kleinhuber das gleiche Schicksal zu bereiten wie dem entseelten Weihnachtsmann. Der versuchte verzweifelt, ihr auszuweichen und sie zu entwaffnen, was sich auf dem rutschigen Boden als äußerst schwierig erwies. Es wurde ein langes, zähes Ringen. Im Nachbarhaus stand bereits seit geraumer Zeit ein Fenster offen und hinter den Gardinen waren lebhafte Personenbewegungen zu verzeichnen. Doch nicht einmal das konnte Mathilde von ihren Mordabsichten abbringen. „Ich steche dich auch ab“, keuchte sie immer wieder. Endlich gelang es Herrn Kleinhuber, ihr das Messer zu entwinden und sie stürzte wütend ins Haus.

Herr Kleinhuber wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann ließ er mit Hilfe des Messers die Luft aus den Weihnachtsmannbeinen entweichen, rollte die Hülle säuberlich auf und stopfte sie in die Mülltonne. Hinter der Hecke konnte er ein leises Kichern vernehmen und sah zwei leuchtend rote Schöpfe eilig abtauchen, als er zu ihnen hinüber blickte. Natürlich, die beiden Bengel von Gegenüber, die von Mathilde wegen jeder Kleinigkeit angeschnauzt wurden, hatten jetzt wohl ihr Mütchen an ihr gekühlt. Irgendwie konnte er es ihnen nicht verdenken. Er hatte die Haustür noch nicht wieder ganz erreicht, als er drinnen das verräterische Scheppern und Klirren hörte. Auf das Höchste alarmiert riss er die Tür auf und sah Mathilde mit einem boshaften Lächeln inmitten der Trümmer seiner Vitrine stehen, eben jener Vitrine, in der er die wertvollsten Lokomotiven seiner Modelleisenbahn aufbewahrte. Gerade hob sie den Fuß, in der unverkennbaren Absicht, einer besonders seltenen Dampflok den Todesstoß zu versetzen. Herr Kleinhuber wollte sie beherzt daran hindern und übersah dabei leider, dass sie mit einer Glasscherbe bewaffnet war. Wie ein Falke im Sturzflug schoss ihre Hand auf ihn zu, Blut tropfte zu Boden und Herr Kleinhuber hielt sich erschrocken seine brennende Wange. „Jetzt mache ich dein Spielzeug auch kaputt“, heulte Mathilde, „und wenn du näher kommst, steche ich dich ab!“ Ein energisches Klopfen an der Haustür ließ sie in der Bewegung erstarren.

„Polizei, öffnen Sie sofort die Tür!“, verlangte eine tiefe Männerstimme unmissverständlich. Herr Kleinhuber, der vor Mathilde zurückgewichen war, drückte benommen auf die Klinke und ließ zwei uniformierte Beamte ein, einen älteren korpulenten Mann und eine junge Frau mit einem blonden Pferdeschwanz. „Wir wurden zu einem Ehestreit …“, setzte der Polizist an und ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Erschüttert musterte er die Szene, die sich seinen Augen bot.

„Geben Sie mir die Scherbe“, forderte er Frau Kleinhuber in einem Tonfall auf, der jedem Therapeuten Ehre gemacht hätte. „Seien Sie vernünftig, Sie haben Ihren Mann bereits verletzt, machen Sie es nicht noch schlimmer.“

„Fragen Sie lieber, was er gemacht hat!“, begehrte Frau Kleinhuber auf. „Er hat den Weihnachtsmann abgestochen.“

Der Beamte warf seiner jungen Kollegin einen bedeutungsvollen Blick zu, woraufhin sie kurz in einem Nebenraum verschwand.

„Los, sag der Polizei wie du den Weihnachtsmann abgestochen hast, mit dem Messer da!“ Mathilde deutete auf das Corpus Delicti in der Hand von Herrn Kleinhuber.

„Ich habe einen Stollen damit aufgeschnitten“, sagte der leise, “ ich begreife nicht, was meine Frau da redet.“

Mit diesen Worten hatte er bei ihr genau den richtigen Nerv getroffen. Das unartikulierte Wutgeschrei, das sie daraufhin anstimmte, schien sogar die beiden Polizisten völlig zu überfordern. Die Sanitäter, die unmittelbar darauf das Haus betraten, blieben dagegen ganz gelassen.

„Ein typischer Fall von Festtagskoller“, sagte der eine. „Hatte ihre Frau viel Stress?“

„Sie hatte für heute Gäste eingeladen und sich mit den Vorbereitungen wohl ziemlich übernommen“, erklärte Herr Kleinhuber treuherzig.

„Da ist sie nicht die Einzige“, meinte der andere Sanitäter verständnisvoll. „Sie braucht nur ein paar Tage absolute Ruhe, dann kommt sie wieder in Ordnung.“ Sie bugsierten die zeternde Frau Kleinhuber in den wartenden Krankenwagen und stimmten ihr beflissen zu, als sie vor der Tür lautstark anmerkte, dieser Mistkerl müsse den abgestochenen Weihnachtsmann beiseite geschafft haben.

Ein paar Stunden später saß Herr Kleinhuber gemütlich in seinem Lieblingssessel und hielt ein Glas Whisky in der Hand. Vor ihm auf dem Teppich drehte die Modelleisenbahn munter ihre Runden. „Ein schönes, friedliches Fest“, hatte ihm die Mitarbeiterin des Asylbewerberheimes gewünscht, als er die Platten mit dem kalten Buffet dort abgegeben hatte. Oh ja, dieser Wunsch hatte sich erfüllt. Herr Kleinhuber hob sein Glas und prostete in Richtung der Mülltonne, in der der glücklose Weihnachtsmann seine letzte Ruhe gefunden hatte. „Dein Tod war nicht umsonst Kumpel“, sagte er fast ein wenig gerührt. „Er hat mir ein mörderisch gutes Fest beschert.“

3 Gedanken zu „Ein mörderisch gutes Fest

  1. Elke

    Hallo liebe Fiona,
    das hast du großartig ge- und beschrieben. Ich habe mich köstlich amüsiert. Eigentlich bin ich gerade beim Kärtchen schreiben und wollte mal nachschaun, ob es in deinem Impressum eine Adresse gibt. Gibt es aber leider, wenn auch verständlicherweise, nicht. So möchte ich dir an dieser Stelle ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Möge dir die Phantasie nie ausgehen. Übrigens – eins ist mir beim Lesen aufgefallen: du wechselst zwischen „die Stolle“ und „der Stollen“. „Die Stolle“ habe ich erst durch meine Schwiegereltern bzw. meinen Mann kennengelernt. Sie kamen aus Leipzig. Bei uns in Hessen benutzt man nur die männliche Form. Ist ja auch irgendwie ulkig. Also dann – lass dir sowohl die Stolle als auch den Stollen schmecken und beschere deinen Lesern bald wieder einen tollen Krimi. Frohe Weihnachten!
    Herzliche Grüße
    Elke

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  2. Elke

    Und nun gleich anschließend, liebe Fiona, wünsche ich dir einen guten Rutsch ins Neue Jahr und dass 2015 sich für dich (und für uns alle) als gutes Jahr erweist. Danke für deine Besuche auf meinem Blog. 2015 wird sich dort ein bisschen was ändern. Ich habe einen neuen Foto- und Kreativblog aufgemacht (mainzauber.de/elke), sodass der Hauptblog wieder weitestgehend zu einem Regionalblog wird, wie er es als Homepage früher auch mal war.
    Herzliche Grüße
    Elke

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